heek_journal - page 161

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Zur Erinnerung
an das Nienborger Leprosen- oder Klepperhaus
Vortrag zur Enthüllung einer Geschichts-Stele am 5. Juni 2016
von Josef Wermert
Wir schreiben das Jahr 1610.
Auf dem Venn beim Dorf Heek liegt das Kind Anna Delves krank darnieder, die
Tochter des unlängst verstorbenen Vikars der Drei-Könige-Vikarie in Heek, Herbord
Delves. Alle befürchten das Schlimmste, doch keiner vermag das Unheimliche aus-
zusprechen. Das kleine Mädchen Anna zeigt Symptome einer Krankheit, die sie alle
nur zu gut kennen: die Lepra oder der Aussatz. Um letzte Gewissheit zu erlangen,
schickt man das Mädchen nach Coesfeld, wo in der Kapelle in der Bauerschaft Haer-
ler jährlich zu Pfingsten eine so genannte „Leprosenschau“, eine Begutachtung mög-
licherweise infizierter Personen, stattfindet. Dort wird das Kind durch die Gildemeister
der Coesfelder Leprosengilde und durch dort wohnende Aussätzige untersucht. Das
Ergebnis dieser Untersuchung halten sie in einem erschütternden Dokument fest.
Hierin heißt es, das Kind Anna sei leider von Gott dem Allmächtigen mit der betrübli-
chen Krankheit des Aussatzes heimgesucht worden. Daher wird ihr auferlegt, in Zu-
kunft die Häuser und die Gesellschaft gesunder Leute zu meiden, sich in der für Lep-
rosen gewöhnlichen Kleidung einzustellen, sich mit einer Klapper und einem Napf zu
versehen und sich streng nach den für diesen Krankheitsfall von der Obrigkeit erlas-
senen Verordnungen zu verhalten.
Erst ein gutes halbes Jahr später gelingt es endlich auf Bitten frommer Leute hin,
für die elternlose kleine Anna Delves einen Platz in einem Leprosenhaus zu finden.
Im Februar des Jahres 1611 gestattet nämlich Kunigunde Boxtert – damals auf dem
heutigen Hause Schilling auf der Burg in Nienborg wohnend – die Aufnahme des
Kindes in das für Leprakranke gestiftete so genannte Nienborger Leprosen-, Mela-
ten- oder Klepperhaus. Kunigunde Boxtert war die Witwe des Nienborger Burgmanns
Hermann von Keppel, des Patrons dieser Leprosenstiftung. Gestiftet und mit be-
scheidenen Mitteln ausgestattet worden war das Haus bereits im 15. Jahrhundert
durch die Burgmannenfamilie von Keppel; die erste sichere Erwähnung stammt aller-
dings aus dem Jahre 1510. Die Stiftung war wohl vor allem deshalb erfolgt, um dem
christlichen Gebot der Karitas, der Nächstenliebe, nachzukommen und – dem Zeit-
denken entsprechend – durch die Förderung von guten Werken Vorsorge für das
eigene Seelenheil zu treffen. Denn die Begünstigten, die armen Leprosen, hatten für
die ihnen erwiesene Gnade fortwährend für das Seelenheil der Stifter zu beten.
Als nun das Kind Anna Delves 1611 ins Leprosenhaus aufgenommen wurde, er-
hielt es dort die Stätte bzw. Kammer mit den bisherigen Einkünften des Gerd Path-
mann, eines Leprosen, der wohl gerade zuvor verstorben war. Die dort ebenfalls
wohnenden Leprosen Gerd und Jenniken versprachen, der Anna beizustehen, die ihr
zugesicherten Einkünfte zu empfangen und das Kind dafür zu versorgen. Anna
selbst erhielt aus dem väterlichen bzw. mütterlichen Erbe ein kleines Bett, vier Laken,
eine Decke, ein Kopfkissen und sechs Reichstaler mit ins Leprosenhaus, und ihre
Schwester Alike und deren Mann Henrich Loepe vom Venn in Heek versprachen,
eine jährliche Rente zu entrichten. Weiteres ist über das sicherlich nur kurze Leben
der kleinen Anna nicht zu erfahren.
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